Im Bereich des Coachings gibt es zahlreiche populäre Konzepte und Modelle, die unwissenschaftlich sind. Eines dieser Modelle ist die Maslow-Bedürfnispyramide, die auf dem Werk des Psychologen Abraham Maslow basiert. In meiner Reihe "Unkaputtbare Coachingkonzepte" werfe ich einen kritischen Blick auf solche weit verbreiteten Konzepte und untersuche ihre Anwendbarkeit und Relevanz in der heutigen Coaching-Praxis aus psychologischer Perspektive. In diesem Artikel steht die Maslow-Bedürfnispyramide im Mittelpunkt, um ihre Stärken, Schwächen und mögliche Missverständnisse zu beleuchten.
In vielen Führungstrainings wird die Maslow-Bedürfnispyramide weiterverbreitet und prägt die Erinnerung der Teilnehmer nachhaltig. Leider ist die Erinnerung so stabil wie falsch.
Fun Fact: Maslow hat die Pyramide selbst nie entworfen. Viel mehr wurden die von ihm beobachteten Bedürfnisse erst nach seinem Tod in die Pyramidenform gegossen.
Die Popularität der Maslowschen Bedürfnispyramide beruht auf ihrer eingängigen Inhalts- und Formdarstellung. Die klare Form der Pyramide unterstützt das Verständnis, indem sie eine Rangfolge vermittelt.
Aber jetzt stell ich die fünf Stufen der Pyramiden erst einmal vor:
Physiologische Bedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf)
Sicherheitsbedürfnisse (Schutz, Stabilität)
Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse (soziale Bindungen)
Bedürfnis nach Achtung und sozialer Anerkennung (Respekt, Prestige)
Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (Entfaltung des Potenzials)
Diese Hierarchie erklärt die Reihenfolge, in der Bedürfnisse erfüllt werden. Jeder Mensch kann jedoch in verschiedenen Stufen aktiv sein, und individuelle Unterschiede spielen eine Rolle. Die Maslowsche Pyramide ist ein nützliches Modell zur Erforschung menschlicher Motivation und Entwicklung.
Nerd Fact: Die Aufzählung der Bedürfnisse von Maslow wurden von dem Psychologen McGregor fehlerhaft interpretiert, indem er postulierte, dass untere Bedürfnisse vor der Erfüllung höherwertiger Bedürfnisse erfüllt werden müssten. Herauszustellen ist, dass Maslow selbst an die mögliche Gleichzeitigkeit der Aktivierung verschiedener Bedürfnisklassen glaubte.
Der erste Kritikpunkt, weshalb die Pyramide im Führungskräftetraining in den Schwierigkeiten in der Praxis bringt:
Die Pyramide geht davon aus, dass bei allen Menschen die Bedürfnisse in gleicher Weise hierarchisch aufgebaut sind. Dies ist jedoch weder empirisch begründet noch plausibel. Die Theorie kann einige Aspekte des menschlichen Verhaltens nicht erklären. Zum Beispiel kann sie nicht erklären, warum Menschen gesundheitliche oder wirtschaftliche Risiken eingehen, um sich sportlich oder künstlerisch zu verwirklichen.
Das zeigt, dass die Vielfalt der menschlichen Bedürfnisse komplexer als die starre Hierarchie, die von der Pyramide postuliert werden, sind. Menschen können unterschiedliche Prioritäten setzen und individuelle Ziele verfolgen, die nicht zwangsläufig in die vorgegebene Rangfolge der Bedürfnisse passen. Einige Menschen können ihre künstlerischen oder sportlichen Ambitionen über ihre Sicherheitsbedürfnisse stellen und bewusst Risiken eingehen, um sich selbst zu verwirklichen.
Darüber hinaus spielen kulturelle und soziale Einflüsse eine wichtige Rolle bei der Gestaltung unserer Bedürfnisse und Motivationen. Kulturelle Unterschiede können dazu führen, dass Menschen unterschiedliche Schwerpunkte setzen und andere Bedürfnisse priorisieren. Die Maslowsche Pyramide berücksichtigt nicht ausreichend die kulturelle Vielfalt und die individuellen Unterschiede im menschlichen Verhalten.
Maslow glaubt, dass bei den vier ersten Bedürfnissen eine natürliche Obergrenze der Bedürfnisbefriedigung existiert, und dass eine Überbefriedigung als unangenehm erlebt wird. Allerdings scheint diese Annahme nicht immer mit der Realität übereinzustimmen. Es ist fraglich, wie plausibel es ist, dass Politiker oder Musiker zu viel Anerkennung als negativ empfinden würden.
Der zweite Kritikpunkt liegt daran, dass die Befriedigung eines Bedürfnisses zu einem Übergang zum nächsten Bedürfnis führt. Ganz einfaches Gegenbeispiel Politiker, Unternehmer oder Musiker, die große Erfolge erzielen, sagen selten "ok jetzt ist es genug an Geld oder Anerkennung. Im Gegenteil die zusätzliche Anerkennung als Bestätigung ihres Erfolgs und als Ansporn für weitere Leistungen sehen.
Es ist wichtig anzumerken, dass individuelle Unterschiede eine Rolle spielen und Menschen unterschiedlich auf Bedürfnisbefriedigung reagieren können. Während einige Personen möglicherweise eine Sättigungsgrenze erreichen und eine Überbefriedigung als unangenehm empfinden, könnten andere weiterhin nach noch höherer Anerkennung streben und dies als positiv erleben.
Der dritte Kritikpunkt: Ein Problem besteht darin, dass die Motive in der Maslowschen Theorie abstrakt formuliert sind, sodass fast jedes Verhalten mit allen Motiven erklärt werden kann und widersprüchliches Verhalten auf die gleichen Motive zurückgeführt werden kann. Zum Beispiel kann sowohl eine Person, die sich ausschließlich auf die Arbeit konzentriert und die Familie vernachlässigt, als auch eine Person, die sich ausschließlich auf die Familie konzentriert und die Arbeit vernachlässigt, als nach Selbstverwirklichung strebend interpretiert werden. Oder beide Verhaltensweisen können als Ausdruck des sozialen Kontaktbedürfnisses oder des Sicherheitsbedürfnisses interpretiert werden.
Diese Unschärfe führt dazu, dass die Theorie scheinbar jedes Verhalten erklären kann, aber keine zuverlässigen Vorhersagen ermöglicht und kaum konkrete praktische Maßnahmen ableitet. Es ist daher fraglich, wie nützlich es ist, zu wissen, dass Mitarbeiter einen hohen Wunsch nach Selbstverwirklichung haben. Die individuellen Vorstellungen und Interpretationen von Selbstverwirklichung sind zu unterschiedlich, um daraus konkrete Handlungsanleitungen ableiten zu können.
Die Bedürfnispyramide von Maslow ist erneut ein gutes Beispiel für die unkritische Verbreitung und naive Anwendung von auf den ersten Blick plausibel wirkenden, aber weitgehend falschen psychologischen Annahmen in der Praxis. Die unkritische Verwendung der Maslowschen Bedürfnispyramide durch Entscheidungsträger führt zu Fehlern und einer geringen Wirksamkeit bei der Mitarbeitermotivation.
Quellen:
Becker, F. (2018). Mitarbeiter wirksam motivieren: Mitarbeitermotivation mit der Macht der Psychologie. Springer-Verlag.
Bowling, N. A. (2007). Is the job satisfaction–job performance relationship spurious? A meta-analytic examination. Journal of Vocational Behavior, 71(2), 167-185.
Comelli, G. & Rosenstiel, L. v. (2009). Führung durch Motivation: Mitarbeiter für Unternehmensziele gewinnen (4. Aufl.). München: Vahlen.
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